Workshop zur Zeitgeschichte anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus
Start: Fr, 12.2.21, 18 Uhr, Telefon-Treffen
Am heutigen 27.1. erinnern wir uns an die Opfer des Nationalsozialismus. Es ist der Tag, an dem 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde.
Unter den von den Nationalsozialisten Verfolgten und Gejagten waren auch zahlreiche blinde und sehbehinderte jüdische Menschen. Sie waren im Kampf ums Überleben, ohne Arbeitsplatz, ohne Einkommen, aus ihren Wohnungen vertrieben, bald ihrer Habe beraubt, von Deportation und Ermordung bedroht, als Nichtsehende besonders auf Hilfe angewiesen.
In Berlin erzählten die verfolgten blinden Juden sich von einer Anlaufstelle mitten in der Stadt, die Schutz versprach: Der Blindenwerkstatt von Otto Weidt.
Selbst sehbehindert, betrieb Otto Weidt als Kleinunternehmer ab 1940 eine Bürstenbinderei in Berlin-Mitte. Er hatte dieses Handwerk erlernt, als sich seine Erblindung abzeichnete und er ein neues Arbeitsfeld suchte, das er auch mit schwindendem Sehvermögen ausfüllen konnte.
In der Werkstatt im Hinterhof der Rosenthaler Straße 39 beschäftigte er während des Zweiten Weltkriegs hauptsächlich blinde und gehörlose Juden, um sie vor dem Zugriff der Nazis zu schützen. Die Werkstatt war oft die letzte Zuflucht für die verfolgten Arbeiterinnen und Arbeiter und ihre Angehörigen. Wenn jemand untertauchen musste, besorgte Weidt Nahrungsmittel und falsche Papiere, organisierte Verstecke. Sogar in seiner Bürstenwerkstatt lebten Illegale in einem geheimen Hinterzimmer. Als 1942 alle seine jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter zum Abtransport ins KZ abgeholt worden waren, gelang es ihm, durch Bestechung der Gestapo, seine Leute wieder aus dem Sammellager herauszuholen.
Vielen konnte Weidt mit seinem Mut, mit Zielstrebigkeit und Ideenreichtum, in der Not helfen. Von den 33 jüdischen blinden und tauben Menschen, die im Zweiten Weltkrieg in seiner Werkstatt gearbeitet hatten, überlebten sieben die Nazi-Zeit.
Einer der Arbeiter war der späterblindete jüdische Bankfachmann Erich Frey, der 1940, mit 51 Jahren, bei Weidt als Bürstenbinder anfängt. 1942, vor dem Untertauchen, verfasst Frey zusammen mit seiner Frau einen langen Brief an ihre Töchter, denen die Flucht gelungen war. Der Brief schildert den von Schikanen und Drohungen bestimmten Alltag der Eltern im Berlin der Jahre 1939 – 42. Tagebuchartig halten sie fest, wie ihr Leben von Entbehrung, Angst und Entwürdigung durchsetzt wird, wie das Mörderische des Regimes immer deutlicher zutage tritt.
Workshop zur Zeitgeschichte
Diesen Brief, von dem eine einzige Kopie erhalten ist, wollen wir in einem Workshop mit interessierten Blinden und Sehbehinderten in einer geeigneten Form medial zugänglich machen. Wer sich für Zeitgeschichte interessiert, oder kreativ werden möchte – im Schreiben oder Sprechen – , oder digitale Kenntnisse – etwa in Tonbearbeitung oder Social Media – einsetzen möchte, ist herzlich willkommen.
Interessenten mailen an
workshop(at)hoerfilm.de
Wenn Sie Lust haben, schreiben Sie uns kurz, was Sie am Thema interessiert.
Ein erstes Telefon-Meeting zum gegenseitigen Kennenlernen findet am Freitag, 12.2.21, um 18 Uhr statt.
Umfang und Dauer des Projekts werden dort gemeinsam abgestimmt.
Kurzbiographie Erich und Elsbeth Frey
Erich Frey ist 46 Jahre alt, als er 1935 als Jude seinen Arbeitsplatz verliert. Der Bankfachmann wird zwangspensioniert, und muss seine Familie mit Aushilfsarbeiten ernähren. Mit seiner Ehefrau Elsbeth hat er zwei Töchter, Lieselott (17) und Marie-Anne (13). Den Mädchen gelingt vier Jahre später, kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges, noch die Auswanderung. Die Eltern hoffen, folgen zu können. Eine Einwanderung nach Palästina wird dem Ehepaar jedoch verwehrt, da Erich Frey inzwischen erblindet ist.
Ab September 1940 arbeitet Erich Frey als Bürsteneinzieher in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt in Berlin-Mitte. Anfang 1943 taucht das Ehepaar Frey unter. Sie verstecken sich zunächst im Keller der Blindenwerkstatt in der Rosenthaler Straße 39. Für ihre Töchter verfassen Erich und Elsbeth Frey einen Bericht, in dem sie ihre eigenen Erlebnisse angesichts ihrer Entrechtung und Ausgrenzung als deutsche Juden schildern. Sie hinterlegen den Bericht in vier Exemplaren bei verschiedenen Berliner Freunden. Ein Exemplar erreicht die Töchter nach Kriegsende.
Elsbeth und Erich Frey werden im April 1944 in ihrem Versteck am Bundesratufer 4 in Berlin-Tiergarten von der Gestapo festgenommen. Am 19. April werden sie in das Ghetto Theresienstadt, wenig später in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort am 31. Mai 1944 ermordet.
An Elsbeth und Erich Frey erinnern heute „Stolpersteine“ vor dem Haus Rheingoldstraße 4 in Berlin-Lichtenberg.
Weitere Informationen über das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt finden Sie auf
https://www.museum-blindenwerkstatt.de/de/mbow/